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Bei Sturm am Meer

Von zerplatzten Träumen und lebenslangen Lügen – der neue Roman von Philipp Blom.

Ein Hotelzimmer in Amsterdam: Ben wartet auf die Urne mit der Asche seiner Mutter Marlene. In einem Brief an seinen vierjährigen Sohn versucht er zu erklären, wie es dazu kam, dass sich sein Leben plötzlich verändert hat. Vor vierzig Jahren erfuhr Ben, dass sein eigener Vater entführt und ermordet wurde, im kolumbianischen Rebellengebiet, wo er im Auftrag eines deutschen Magazins unterwegs war.

Danach änderte sich für Bens Mutter alles. Doch erst nach Marlenes Tod erkennt Ben, in welchem Ausmaß seine Mutter sich in Lebenslügen verstrickt hatte und dass die Geschichte seiner Familie eine große Illusion ist.

Erscheinungsdatum: 25.07.2016
224 Seiten
Zsolnay
Fester Einband | ISBN 978-3-552-05793-7
ePUB-Format | ISBN 978-3-552-05810-1
€ 20,00 (D)
20,60 (A)

„Bei Sturm am Meer“: Philipp Bloms gelungenes Generationenporträt

…eine fein sortierte Studie über die unentrinnbare Verflechtung der Generationen.

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Kleine Zeitung, 26.07.2016

Generationenporträt: Philipp Bloms Romandebüt „Bei Sturm am Meer“

Feinsäuberlich verknüpft Blom die verschiedenen Fäden der Familiengeschichte in einem einzigen Zeitfenster von wenigen Tagen, setzt dort Anker und rudert in der Zeit nach vor und zurück. Sein Historikertum schadet dabei nicht, gibt beiläufig Einblicke in das schwierige Verhältnis von Holland und Norddeutschland nach dem Krieg, in die linken Bewegungen der Hansestadt, wo intellektuelle nächtliche Höhenflüge einer aggressiven Entladung mitunter gefährlich nahe kamen, erzählt vom Staub der Geschichte, der auf Wien wie eine Decke liegt, als sein Protagonist hierher zieht und der die Mühlen seines Schaffensdrangs schließlich zum Stillstand bringt.

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Tiroler Tageszeitung, 26.07.2016

Philipp Bloms „Bei Sturm am Meer“: Frauen-, Vater- und Sohngeschichten

Kontrollverlust der Romanwirklichkeit: Philipp Blom lässt im Roman „Bei Sturm am Meer“ seinen Helden immer wieder in Traumparallelwelten abtauchen.

Auf dem Umschlag geht es plakativ zur Sache: ein aufgepeitschtes Meer, die Gischt einer sich brechenden Welle. Schließlich heißt das Buch ja Bei Sturm am Meer, und dieser Titel ist wiederum jenem Bild, einem „holländischen Seestück“, geschuldet, das im Roman in einem deutschen Wohnzimmer hängt oder vielmehr hing: Es ist Bens einzige Erbschaft und vieldeutige Erinnerung an die Mutter, und ein wenig auch an sich selbst: „Man meint, man könnte die Wellen und die Brandung hören.“ Mit Holland hat die Geschichte, die noch den Enkel berührt, viel zu tun: Nach dem Krieg hat es die Großmutter dorthin verschlagen, die Mutter ist dort aufgewachsen, Ben selbst, zwar in der Nähe von Hamburg groß geworden, hat in Amsterdam bleibende Eindrücke erfahren. Aber Familiensaga ist das keine, dazu fehlen die Männer, deren Absenz jedoch zum alles bestimmenden Narrativ wird. Das Unglück der Großmutter wiederholt sich in dem der Mutter, und den Sohn trifft es persönlich, muss er sich doch am Ende auf Spurensuche nach seinem Vater begeben. Sie beschert der Handlung den eigentlichen Überraschungseffekt oder jene „unerhörte Begebenheit“, die erzählender Literatur erwiesenermaßen eignen muss. Makaber und lakonisch All das passiert erst mit und nach dem Tod der Mutter. Und schon dieser Anfang wäre „unerhört“ genug: „Marlene, meine Mutter, deine Großmutter, ist in der Post verlorengegangen.“ So lautet der erste, naturgemäß suggestive Satz des Buches – wahrscheinlich gibt es keinen Roman, der so makaber und lakonisch beginnt. Tatsächlich ist die Mutter auf dem Postweg nach Amsterdam verschwunden, genauer gesagt ihre Urne, die Ben im Grab ihrer Mutter beisetzen will und die er selbst nicht über die Grenze schaffen darf. Also geht die Asche als eingeschriebenes Paket auf Reise – und trifft am Zielort nicht ein. Ben wartet in einem Hotelzimmer, er wartet fünf Tage und schreibt einen langen Bericht an seinen Sohn in Wien; der ist zwar erst vier und wird das nicht verstehen, aber hier geht es ohnehin um ganz andere Zeiträume. Was so aufschreibenswert ist, liegt vierzig Jahre zurück – damals wurde Bens Vater, ein Spiegel-Reporter, in Kolumbien von Rebellen entführt und ermordet. So jedenfalls hat es die Mutter erzählt, und mit dieser Geschichte, diesem Narrativ des unglücklichen Frauenlebens, ist Ben aufgewachsen. Bilder seiner Jugend Dass es sich dabei um eine Lebenslüge handelt, wird dem Leser bald klar: Erkennbar ist der Roman auf Entschlüsselung angelegt, die ebenfalls in Amsterdam vonstatten geht – mit dem Auftauchen von Clara, einer ehemaligen Freundin der Mutter, die schließlich die wahre Geschichte erzählt. Parallel dazu läuft für Ben ein anderer Film ab, der ihm noch einmal Bilder seiner Jugend vor Augen führt – im wörtlichen Sinn jenes, das ihn als Aktmodell mit 17 Jahren zeigt. Damals ist er einer Malerin in Amsterdam Modell gelegen, und jetzt, 25 Jahre später, wo er auf die Asche seiner Mutter wartet, sieht er ausgerechnet dieses Aktbild auf einem Plakat, das eine Retrospektive der Malerin bewirbt. Natürlich ging es damals um mehr, schließlich hat sie ihn nicht nur gezeichnet, sondern ihm den „erstaunlichsten kleinen Tod seines Lebens“ bereitet – und jetzt – was für ein Zufall – wird er noch einmal mit dem „Ozeanischen dieses Augenblicks“ konfrontiert. Ben strauchelt, das ist aber auch der Alkohol. Als er wieder zu sich kommt, hat er „den Geruch von Brackwasser in der Nase“. Hat das auch mit dem Seestück, seiner „sprühenden Gischt“ zu tun? Als Leser spürt man: Hier scheint die Geschichte zu entgleiten, da wirkt einiges aufgesetzt. Auch, dass Blom seinen Helden (und vermutlich sein Alter Ego) immer wieder aus der Realität in eine Traumparallelwelt abtauchen lässt, führt stellenweise zu einem Kontrollverlust der Romanwirklichkeit. Das Damals konstruiert nämlich überfleißig die Gegenwart: Natürlich begegnet Ben noch einmal der Frau, die ihm behilflich war, seine Unschuld zu verlieren, natürlich steht er ihr noch einmal als Aktmodell zur Verfügung, und natürlich geht es noch einmal „ozeanisch“ zur Sache – was sind schon 25 Jahre! Nur dass der Liebesakt auch beim zweiten Mal genauso ausgespart bleibt: kein erzählerischer Höhepunkt in der Brandung. Stattdessen erfährt der Leser: „Nach seinem Besuch bei Rachel hatte er geduscht.“ Organisation im Erzählgerüst Vielleicht soll das Absicht sein, dass sich der Erzähler nicht zwischen Nah- und Fernsicht entscheiden kann. Es ist übrigens eine Mischung aus klassischer Ich- und Er-Erzählung, das wirkt dynamisch, aber erzählerisch nicht konstant genug. Passagen, in denen weitgehend nur referiert wird, stehen plötzlich allzu lyrische Textteile gegenüber, etwa: „Er malte melancholische Blumensträuße“ oder „Das Dunkel tanzte auf dem Wasserspiegel und stand in den Straßen“. Es gibt noch andere Stellen, wo das Lektorat hätte eingreifen müssen („Ich habe sie gerne gemocht“!) und auch für mehr Organisation im Erzählgerüst hätte sorgen können. Es gibt aber auch sehr gelungene Passagen, etwa wenn vom Sterben der Mutter erzählt wird. Das ist ganz realistisch und nicht von ungefähr überzeugend, Realismus ist bekanntermaßen Philipp Bloms angestammtes Terrain. Dass sich die Kritik bei ihm als Romancier nicht ganz sicher ist, zeigt bereits die Divergenz in einer simplen Streitfrage: Für die einen ist es Bloms erster Roman, für die anderen bereits sein dritter. Wie auch immer, fast alle Bücher Bloms sind nicht-fiktional, darin liegt auch seine Stärke: Der taumelnde Kontinent und Die zerrissenen Jahre sind eindrückliche Studien über Kultur und Gesellschaft zu Beginn des vorigen Jahrhunderts. Des Weiteren kennt und schätzt man Blom als Journalisten, als Übersetzer und hierzulande als wohltuenden Ö1-Moderator. Der Romancier ist noch etwas gewöhnungsbedürftig. – derstandard.at/2000050698720/Philipp-Bloms-Bei-Sturm-am-Meer-Frauen-Vater-und-Sohngeschichten

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Der Standard, 14.01.2017 (Gerhard Zeillinger)

Familiengeheimnisse und Lebenslügen

Der renommierte Historiker Philipp Blom überzeugt mit „Bei Sturm am Meer“ auch als Romanautor.

Den deutschen, in Wien lebenden Historiker Philipp Blom kennt man als brillanten Sachbuchautor („Der taumelnde Kontinent. Europa 1900–1914“, „Die zerrissenen Jahre. 1918–1938“). Wie Blom über Geschichte schreibt, zeigt nicht nur seine intellektuelle Kapazität, sondern auch sein erzählerisches Talent. Dass ihn früher oder später nicht nur Fakten, sondern auch Fiktionen reizen würden, ist nicht verwunderlich, und nehmen wir es gleich vorweg: Sein Romandebüt „Bei Sturm am Meer“ ist ihm gelungen!

Blom vermeidet die epische Breite. Er bringt ziemlich viel Stoff auf bescheidenen 220 Seiten unter. Vielleicht hätte man sich manchmal mehr Atmosphärisches und Anschauliches gewünscht, aber der Vorteil von Raffung und Skizzierung liegt auf der Hand: Langweilig wird dem Leser nicht.

„Bei Sturm am Meer“ ist ein Generationenroman, in Ansätzen auch ein moderner Entwicklungsroman. Die Hauptfigur ist der Kunstexperte Ben, eine typische Mittelstandsexistenz, Mitte vierzig, verheiratet mit Xenia, einer erfolgreichen Wissenschaftlerin, Vater des vierjährigen Sascha. Ben reist nach Amsterdam, um dort seine verstorbene Mutter Marlene zu begraben. Die Zeit drängt, aber Ben muss fünf Tage bleiben, denn die Urne mit Mutters Asche ist auf dem Postweg verschwunden.

In diesen fünf Tagen widerfährt Ben mehr Familiengeschichte, als ihm angenehm ist. Da ist zunächst die Erinnerung an Elly, die Großmutter mütterlicherseits, eine Deutsche, die einen um vieles älteren Holländer geheiratet hat und in der spießbürgerlichen Prüderie und der Deutschenfeindlichkeit von Den Haag zuerst unglücklich und letztlich zur Alkoholikerin geworden ist. Marlene, ihre Tochter aus einer Kurzbeziehung mit einem Deutschen, gehört zur Generationen der Achtundsechziger, passt sich allerdings dem Zeitgeist der Revolte eher an, als ihn zu vertreten. Dies vor allem aus Liebe zu Henk, einem linken Spiegel-Journalisten. Auf einer Reise in kolumbianisches Rebellengebiet ist Henk in den Siebzigern spurlos verschwunden. Der kleine Ben war zu diesem Zeitpunkt vier Jahre alt. Das heroische Bild vom Vater als einem Märtyrer der Weltrevolution begleitet ihn lange. So lange, bis ein Brief mit dieser dunkelroten Familienlegende aufräumt. Der Aufenthalt in Amsterdam enthüllt aber nicht nur ein Familiengeheimnis, er fordert Ben auch zur kritischen Betrachtung seines eigenen Lebens heraus.

In Briefen an seinen vierjährigen Sohn (die dieser erst in vierzig Jahren erhalten soll) erzählt Ben von seiner Jugend, seiner Ehe, seinen Enttäuschungen und Ängsten, von unkalkulierbaren Risiken des Lebens. Ein Bild aus dem 18. Jahrhundert macht Philipp Blom zum Leitmotiv. Es zeigt ein gestrandetes Schiff, die Mannschaft hofft auf Rettung, und tatsächlich brechen entschlossene Männer vom Strand auf. Um das Schiff zu retten? Oder um es zu plündern und die Besatzung zu massakrieren? Die Ambivalenz der Situation verursacht beunruhigende Spannung. Die Seefahrt ist nicht das originellste Symbol für das Leben, aber treffend ist es allemal.

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Oberösterreichische Nachrichten, 26. August 2016 (Christian Schacherreiter)